Keine Berührungsängste

Montag, 1. August 2022

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© Photo by Barbara Nepp

Als Kind habe ich in den Sommerferien viel Zeit mit meinen Cousinen in ihrem großen Haus verbracht. Wenn eine von uns einen toten Vogel, eine Maus oder gar eine Ratte entdeckt hat, haben wir schnell meinen Onkel geholt, der mit der großen Schaufel ausgerückt ist und das tote Tier rasch entsorgt hat. Genauso entspricht wohl im übertragen Sinn unserer heutigen Kultur, dass der Tod eher hinter verschlossenen Türen stattfindet und möglichst schnell wieder „Normalität“ hergestellt wird.
 
 
Mit meinen Kindern (er)lebe ich das nun ganz anders:
In der Vorwoche lag eines Tages in der Früh eine tote kleine Maus auf der kaum befahrenen Straße vor unserem Ferienhaus. Anstatt nach Schaufel und Besen zu rufen, haben meine Kinder erstaunliches Interesse an der „süßen“ Maus. Überhaupt keine Berührungsängste. Und so begreifen wir bei dieser kleinen Maus den Tod im wahrsten Sinn des Wortes. Berühren sie, fühlen am Fell und am Schwanz. Versuchen herauszufinden, woran sie gestorben ist, denn so wie wir sie gefunden haben sieht sie friedlich schlafend und unverletzt aus. Fragen uns, wo ihre Mäusefamilie wohl wohnt. Sprechen über Katzen, die eines der wenigen Tiere sind, die (auch) nur aus Freude töten und dass dann der Tod der kleinen Maus ein sinnloserer war, als wenn sie wenigstens im Kreislauf der Natur gefressen worden wäre.
 
 
Ohne Scheu beginnt meine Tochter die Maus zu drehen und zu wenden und die Wunde am Bauch zu untersuchen, bevor wir gemeinsam eine letzte Ruhestätte für sie aussuchen.
 
 
Diese Momente des Sitzens bei der kleinen Maus und des Sprechens über die Endlichkeit, sind wunderbar sanfte und berührende Momente, die unsere Verbindung mit der Natur, aber auch zueinander stärken. Wir versuchen im Kleinen zu begreifen, was im Größeren unser Herz noch mehr erfassen würde.
 
 
Es gibt mehr als genug im Leben und beim Tod eines geliebten Menschen/Lebenwesens auf das man sich nicht vorbereiten kann, wenn es aber bereits davor gelingt die eigenen Berührungsängste abzubauen und sich mit der Endlichkeit auseinanderzusetzen, dann kann in der akuten Situation so viel mehr möglich sein.
 
 
Wie zum Beispiel in Geschichten, die mich dann sehr berühren
… von einer lieben Freundin, die gemeinsam mit ihrer Schwester und mit ihrer Mutter ihren toten Vater gewaschen und hergerichtet hat, um so in Ruhe zu trauern, zu verarbeiten und zu lieben bis die Bestattung ihn abholt,
… von einer Seniorin, die sich zu ihrem verstorbenen Mann ins Bett legt, um ganz in Stille und Zweisamkeit noch Abschied nehmen zu können,
… von einer wachsenden Anzahl an SternenkindfotografInnen, um Eltern eine bleibende Erinnerung an ihr totes Baby zu schaffen
 
Für all das und noch viel mehr, müssen wir unsere Berührungsängste mit dem Tod und der Endlichkeit beiseitelassen und uns vom Kreislauf der Natur, vom Wunder des Lebens in all seinen Facetten, vom Zauber des Abschieds, vom ewigen Kreislauf berühren lassen und die kindliche Offenheit und Neugier bewahren. Und so können wir alle zu einer neuen Abschieds- und Verlustkultur beitragen.
 
Alles Liebe
Barbara 🐁